Berichte
aus dem Schulleben und den Fachbereichen
Im Gespräch: Grenzen, Kriege, Ukraine
Historische Konfliktforschung mit dem Schwerpunkt Ukraine
Am 27. April waren die Schülerinnen und Schüler der Q11 von ihren Geschichtslehrkräften zu einer besonderen Veranstaltung eingeladen worden. Dr. Marcus Mühlnikel und Dr. Julia Eichenberg vom Institut für Fränkische Landesgeschichte der Universitäten Bamberg und Bayreuth nahmen sich via Teams die Zeit, zur historischen Konfliktforschung mit dem Schwerpunkt Ukraine zu informieren und anschließend darüber zu diskutieren.
Dr. Marcus Mühlnikel eröffnete die Veranstaltung mit einigen Ausführungen zur Forschungstätigkeit des Instituts, das in den letzten Jahren zum Thema „Krieg in unserem Raum“ gearbeitet hat und unter anderem die Einflüsse des Dreißigjährigen Krieges in Bayreuth und Umgebung denen des Syrienkriegs z.B. in Aleppo vergleichend gegenübergestellt hat. Zwar hat Bayreuth in den letzten Jahrzehnten friedliche Zeiten erlebt, doch sind die Ähnlichkeiten der Bilder und Schilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg oder den beiden Weltkriegen mit denen aus Syrien und nun der Ukraine eindrücklich und lassen diese gefühlt doch weiter entfernten Kriege näher an uns heranrücken.
Dr. Julia Eichenberg, Freigeist Fellow, deren Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte „Historische Friedens- und Konfliktforschung“, „Rechtsgeschichte“, „Diplomatiegeschichte und Internationale Beziehungen“, „Transnationale Soziale Bewegungen“ und „Ost-West-übergreifende Europäische Geschichte“ sind, stellte in ihrem Vortrag zunächst die Frage, warum die Grenzen der Ukraine eigentlich als unveränderlich angesehen werden sollten, wo doch im Lauf der Geschichte Grenzen stets Veränderungen unterlagen. Anhand mehrerer Karten, auf denen die Städte Lwiw, Kiew, Charkiw und Odessa die Fixpunkte zur Orientierung darstellten, wurden die historischen Grenzverschiebungen und Zugehörigkeiten der heutigen Ukraine, u.a. zur Sowjetunion, anschaulich dargestellt. Im Vergleich dazu machte sie auch die unterschiedlichen historischen Grenzverläufe dessen, was wir heute als Deutschland bezeichnen, deutlich. Wenn es nun aber trotz dieser Veränderungen einen klaren Konsens gibt, was deutsches Staatsgebiet ist, dann kann und muss dies natürlich auch für die Ukraine gelten – eine wichtige Erkenntnis, methodisch erzielt mit einfachen Karten. Darüber hinaus sind die Souveränität der Ukraine und ihr Staatsgebiet ante 2014 durch das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen international anerkannt. Im Budapester Memorandum von 1994 verpflichteten sich zudem Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich gemeinsam gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder zu achten.
Im zweiten Teil ihres Vortrags befasste sich Dr. Eichenberg mit der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine. Nachdem in den 1930er Jahren bereits schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen in der Ukraine dem Holodomor zum Opfer gefallen waren, hofften einige Ukrainer zu Beginn der Besetzung des Landes durch das Deutsche Reich sogar darauf, sich mit den deutschen Besatzern besser verständigen zu können als mit der Sowjetunion. Diese Hoffnungen fanden jedoch in der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus keine Entsprechung. Der Ausbeutung des Landes, die zu erneutem Hunger führte, sowie der systematischen Vernichtung menschlichen Lebens im Zuge der Eroberung von „Lebensraum im Osten“ und dem Holocaust (siehe Babyn Jar) fielen erneut 6,5-7,5 Millionen Menschen, etwa ein Fünftel der ukrainischen Gesamtbevölkerung, zum Opfer. Entsprechend sollte Deutschland heute Verantwortung für den Schutz der ukrainischen Zivilbevölkerung übernehmen.
„Wer kämpft gegen wen und wofür?“ – Im dritten und letzten Teil ihres Vortrags widmete sich Dr. Eichenberg den Narrativen und der gesellschaftlichen Mobilisierung in Konflikten und Kriegen. Anschaulich stellte sie dar, wie Kommunikation, Propaganda, Desinformation, (soziale) Medien, aber auch Schule und Bildung genutzt, instrumentalisiert und auch missbraucht werden (können), um gemeinschaftliche Identität zu erzeugen, Feindbilder aufzubauen (immer verbunden mit der Gefahr der Dehumanisierung) und Deutungshoheiten zu erlangen. Im Ukraine-Krieg werde beispielsweise die russische Sprache von beiden Konfliktparteien genutzt, um eigene Argumentationslinien – auch emotionalisierend – zu stützen. Doch auch wir werden in der medialen Berichterstattung oft unterbewusst beeinflusst, etwa durch die Gestaltung visualisierender Karten: ist die Ukraine z.B. im gleichen Farbton gehalten wie Belarus und Russland oder aber wie westlich gelegene Staaten, kann eine jeweilige Zugehörigkeit suggeriert oder wahrgenommen werden. Über die auch in diesem Konflikt allgegenwärtige Diskussion um die Verlässlichkeit von Quellen konnte der gedankliche Kreis geschlossen werden, ist doch die Beurteilung von Quellen und ihrer Verlässlichkeit und Aussage das tägliche Geschäft der Geschichtswissenschaft.
Dass die hohe Informationsdichte von Dr. Eichenbergs Vortrag das Interesse unserer Schülerinnen und Schüler geweckt hatte und sie sich davon unabhängig viele Gedanken machen über die aktuellen Geschehnisse rund um den Krieg in der Ukraine und deren historische Zusammenhänge, zeigte sich in der anschließenden Diskussion. Die vielen fundierten Fragen und Beiträge ließen den angedachten Zeitrahmen schnell in Vergessenheit geraten und auch nach fast einer Stunde hätte es noch Fragen gegeben.
Veranstaltungen wie diese leben immer zum einen von den Referenten. Ein solches Engagement seitens der Fachwissenschaft ist nicht selbstverständlich, umso mehr gebührt Dr. Eichenberg und Dr. Mühlnikel unser herzlicher Dank! Zum anderen sind sie aber auch abhängig von ihrem Publikum, unseren Schülerinnen und Schülern. Auch euch sei deshalb herzlich gedankt für das gezeigte Interesse und die rege Beteiligung an der Diskussion!
Jan Hendrik Schmidt