Berichte
aus dem Schulleben und den Fachbereichen
„…zum Weitererzählen anregen“ – Das ZWEITZEUGENPROJEKT der 9. Klassen
Shoah – hebräisch „die Katastrophe“. Häufiger hört man auch den Begriff „Holocaust“ (griechisch „das Brandopfer“). Beide Begriffe werden verwendet, um den Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen durch das nationalsozialistische Deutschland zu bezeichnen. Sehr intensiv beschäftigten wir uns im Rahmen des Geschichtsunterrichts mit der Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten. Anhand verschiedener Zeitzeugenberichte setzten wir uns im Unterricht mit sehr bewegenden Erfahrungen der als jüdisch verfolgten Menschen auseinander und erkannten gerade vor dem Hintergrund heutiger Erscheinungsformen des Antisemitismus die Relevanz und Aktualität des Themas.
Eine besondere Gelegenheit bot sich uns, als wir am 28. April zu sogenannten ZWEITZEUGEN ausgebildet wurden. Was ist mit diesem Begriff gemeint? Der Verein ZWEITZEUGEN e.V. setzt sich dafür ein, dass die Lebensgeschichten Holocaust-Überlebender bewahrt bleiben und nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb treffen die Mitarbeitenden des Vereins, darunter viele Ehrenamtliche, immer wieder Überlebende des Holocausts, interviewen und portraitieren sie. Dem Verein ist es wichtig, ein möglichst authentisches Portrait zu schreiben: „Wir wollen die Menschen kennenlernen, von ihrer Familie und ihrem Leben erfahren – auch nach 1945.“
Auf der Basis dieser Portraits erzählen ausgebildete und erfahrene Multiplikatoren des ZWEITZEUGEN e.V. bereits seit zehn Jahren die Lebensgeschichten der Holocaust-Überlebenden, um diese an junge Menschen weiterzugeben. Den Mitgliedern des ZWEITZEUGEN e.V. ist es ein besonderes Anliegen, den Überlebenden Last und Verantwortung abzunehmen und die Erzählungen immer weiterzutragen, damit diese niemals in Vergessenheit geraten.
Am MWG hat sich dieses außergewöhnliche Projekt mittlerweile etabliert und fand in diesem Schuljahr aufgrund des Infektionsgeschehens als Online-Workshop für die gesamte neunte Jahrgangsstufe im Distanzunterricht statt. An dieser Stelle möchten wir uns im Namen der gesamten neunten Jahrgangsstufe nochmals bei all denen bedanken, die das Projekt möglich machten: Bei der Georg-Vollmar-Akademie und dem Förderverein der Schule für die Übernahme der Kosten, bei StRin Frau Goßler für die zeitaufwändige Organisation, bei unseren Geschichtslehrkräften für die intensive Vor- und Nachbereitung und im Besonderen natürlich bei den Referentinnen von ZWEITZEUGEN e.V. für die einfühlsame Aufarbeitung und Darbietung der Einzelschicksale.
Ksenia, die Bildungsreferentin des Vereins, erzählte uns, der Klasse 9b, die Lebensgeschichte von Erna de Vries und gab uns damit die Möglichkeit, Ernas Lebensgeschichte kennenzulernen und damit zu Zweitzeugen ihrer Geschichte zu werden.
Zu Beginn des Workshops sprachen wir über einige Begriffe des Holocausts, zum Beispiel den des „Judensterns“. Diesen Aufnäher mussten jüdische Personen per Gesetz verpflichtend sichtbar an ihre Kleidung nähen. „Entwürdigend, man wird abgestempelt“, ist eine Reaktion von uns. Doch die Stigmatisierung war nur eine Vorstufe des Schreckens: Schrittweise wurden den Juden und Jüdinnen ihre Rechte genommen, bis sie schließlich in Konzentrationslager deportiert wurden. Auch Erna de Vries wurde deportiert und überlebte zwei Konzentrationslager und den sogenannten Todesmarsch. Ernas Lebensgeschichte berührte uns sehr und ermutigt uns, selbst als ZWEITZEUGEN aktiv zu werden. Daher möchten wir an dieser Stelle aus Ernas Leben berichten:
Erna wächst als einzige Tochter eines christlichen Betriebsleiters und seiner jüdischen Frau in Kaiserslautern auf. Sie erlebt eine sehr glückliche Kindheit, bis ihr Vater 1930 verstirbt. In den Folgejahren kämpft ihre Mutter allein um den Erhalt ihrer Firma, doch der Hass und die Anfeindungen gegen die Juden und Jüdinnen nehmen immer mehr zu. Ernas Traum ist es, Ärztin zu werden, aber als ihre Mutter den Betrieb aufgeben muss, scheint dieser in weiter Ferne. Wie alle anderen jüdischen Kinder geht sie nun in eine sogenannte „jüdische Sonderklasse“. 1938 kommt es zu den Novemberpogromen. Wohnungen, Geschäfte und Synagogen werden zerstört, auch das Zuhause von Erna und ihrer Mutter. Fensterscheiben sind eingeschlagen, Betten aufgeschlitzt, Schränke umgeschmissen und Wasserleitungen beschädigt, sodass alles unter Wasser steht.
Erna und ihre Mutter beschließen erst einmal in Köln bei ihrem Bruder zu wohnen. Während Ernas Mutter wieder nach Kaiserslautern zurückkehrt, arbeitet Erna in einem Kölner Krankenhaus als Pflegerin. Auf Grund der Deportationen und der Angst um ihre Mutter kehrt Erna wieder nach Kaiserslautern zurück. Als ihre Mutter kurze Zeit darauf einen Deportationsbescheid nach Auschwitz erhält, ist Erna fassungslos und weint bitterlich. Erna kämpft bei der Gestapo darum, dass auch sie als „Halbjüdin“, die für den Transport nicht vorgesehen ist, ihre Mutter begleiten darf, obwohl sie weiß, was sie dort erwartet. Schließlich kann sie die Gestapo damit überzeugen, dass Kaiserslautern dann „eine Jüdin weniger habe“, und kommt mit ihrer Mutter nach Auschwitz. Ihre Mutter kommt im Vernichtungslager um. Erna überlebt Auschwitz, weil sie im letzten Moment ins Frauen-KZ Ravensbrück gebracht wird. Dort muss sie in der Firma Siemens & Halske Zwangsarbeit verrichten.
Als die Nazis die Konzentrationslager vor den anrückenden Alliierten räumen, wird Erna auf den Todesmarsch geschickt. Nur der guten Zurede einiger mitgefangener Frauen ist es zu verdanken, dass Erna sich weiterschleppt – bis plötzlich die Amerikaner mit Panzerwagen zu sehen sind und die Menschen befreien. Ihre Befreiung durch Truppen der USA beschreibt Erna mit folgenden Worten: „Wir konnten nicht mehr. Die Füße taten mir weh, alles tat mir weh. Und auf einmal sehen wir, da kommt ein amerikanischer Jeep auf uns zu. Die Soldaten winken. Da haben wir begriffen: Wir sind plötzlich frei! Wir stehen auf der Straße und sind plötzlich frei!“ „Mich berührte sehr, als die Amerikaner kamen und Erna und die anderen befreiten. Das hat mich wirklich glücklich gemacht!“, sagte eine Mitschülerin, als wir unsere Emotionen zu der Geschichte austauschten.
Erna lebt heute in Lathen. Sie hat drei Kinder mit ihrem geliebten Mann, der leider bereits verstorben ist, und inzwischen mehrere Enkel. „Mir ist folgendes wichtig: Zum Ersten, dass es nicht vergessen wird, dass gewarnt wird. Zum Zweiten, dass es nicht allein meine Geschichte ist, sondern die Geschichte von Hunderttausenden, und ich bin vom Tod verschont geblieben“, appelliert Erna in einem Gespräch mit dem Verein. Ernas Mutter bat ihre Tochter beim Abschied eindringlich darum, die Erlebnisse aus dieser Zeit weiterzugeben. Von 1998 bis 2020 hat die inzwischen 97-Jährige dies getan, bis sie diese wichtige Aufgabe schließlich an ihre Familie und den Verein weitergibt. Zu den ZWEITZEUGEN zählen nun auch wir, die Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe des MWG.
Mit diesem Artikel möchten auch wir unseren Teil dazu beitragen, die Erinnerungen lebendig zu halten. Wir möchten zum Weitererzählen anregen. Wir alle dürfen nicht vergessen und müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass sich das Unfassbare nicht wiederholt.
Hanna Rohleder und Victoria Wodecki aus der Klasse 9b